Wasen im Emmental: Kleine Zeitmesser sind nicht sein Ding. Ueli Zürcher hat sich den Grossuhren und Pendulen verschrieben – am liebsten widmet er sich den ruhenden. BZ-Redaktor Urs Egli wagte sich an die Kunstwerke der Technik heran.

9 Uhr. Der Empfang ist melodiös. Kleine und grössere Hämmer schlagen auf Federn und Glocken. In grosser Zahl stehen oder hängen die Uhren in der Werkstatt. Und alle schlagen sie jetzt die volle Stunde. Von largo über andante bis presto. Von pianissimo bis fortissimo. Binnen weniger Sekunden. Pünktlich wie eines dieser Uhrwerke trete ich aus dem sonnigen Herbstmorgen in das Atelier des Wasener Uhrmachers Ueli Zürcher. Mit festem Händedruck heisst er mich, seinen Gesellen für einen Tag, willkommen. Ohne Brimborium macht er sich in seinem blauen Arbeitskittel ans Werk, ich assistiere.

Mit Pressluft reinigt der 63-Jährige Rädchen und weitere Uhrenteile. Eine Arbeit, die auch ich als Laie ausführen kann. Aber natürlich halte ich die Dinge nicht so geschickt in den Händen wie der Meister. Ueli Zürcher hat das Handwerk von der Pike auf gelernt, um nicht zu sagen, er hat die Fertigkeit geerbt. Denn schon sein Vater Hans war Uhrmacher. Bei der Firma J. G. Baer AG in Sumiswald hatte er Turmuhrmacher gelernt. Danach arbeitete er auch für andere Manufakturen. Dabei hatte er es immer wieder mal mit Sumiswalder Pendulen zu tun. Das Ziel von Hans Zürcher war ehrgeizig: Er wollte einmal selbst solch eine schöne Uhr anfertigen.

«1950 eröffnete mein Vater in Wasen ein Uhrenfachgeschäft», sagt Ueli Zürcher und ergänzt: «Nun verwirklichte er seinen Traum und baute eine Sumiswalder Pendule, wie ursprünglich, mit einem Dreiviertel- und Stundenschlagwerk auf Tonfedern.» Im Jahr 2000 wurde im Uhrenatelier Zürcher die 98. Pendule hergestellt. «Zurzeit kommen so viele antike Sumiswalder Pendulen auf den Markt, dass es keine Nachfrage für eine solche rein handwerklich hergestellte Uhr gibt», erklärt der Vater von zwei Kindern, der das Geschäft 1985 übernommen hat.

«Uhren haben mich immer fasziniert. Ich bin in die Materie hineingewachsen», sinniert Zürcher, «aber mein Vater sagte nie, du musst Uhrmacher werden.» So ab der siebten Klasse habe er in der Werkstatt kleinere, einfache Arbeiten ausgeführt. Nach der Uhrmacherschule in Solothurn startete er seine Wanderjahre. Diese führten ihn zum Beispiel nach Nyon, wo er viele Grossuhren repariert habe. Der junge Berufsmann war auch zweieinhalb Jahre in Langenthal, bevor er in das Geschäft seines Vaters eintrat.

Dass das Uhrwerk, das Ueli Zürcher eben aus dem Gehäuse einer Pendule ausgebaut hat, mehr als hundert Jahre auf dem Buckel hat, sieht man ihm nicht an. Er hantiert mit Pinzette und Zängelchen. Im Nu hat Zürcher die Mechanik demontiert und zeigt mir, warum das Kunstwerk aus Sumiswalder Produktion nicht mehr funktioniert. Manchmal liege es nur am Öl, das ein­getrocknet sei und deshalb verhindere, dass sich eine Welle oder ein Zahnrad drehen könne. «Die Qualität der heute meist synthetisch hergestellten Öle ist nicht mehr vergleichbar mit jenem, das noch mein Vater einsetzte. Das waren noch richtige Öle, die nicht so schnell ausgetrocknet sind», merkt der erfahrene Spezialist an.

Ans Aufhören denkt Ueli Zürcher noch lange nicht: «Wenn ich gesund bleibe, arbeite ich über das Pensionsalter hinaus.» Die Begeisterung für seine abwechslungsreiche Arbeit ist sicht- und spürbar, ungebrochen. Die Verschiedenartigkeit der Uhrwerke, die teilweise bereits im 18. Jahrhundert hergestellt wurden, fasziniert den Spezialisten immer wieder aufs Neue. Zum Beispiel eine Grande Sonnerie. Ein Schlagwerk, das die Stunden und Viertelstunden auf verschiedene Tonfedern schlägt und nachts zu den Viertelstunden noch die letzte Stunde repetiert. Oder Pendulen, in deren Sockel Musikwalzen eingebaut sind, die jeweils zwei Minuten vor dem Stundeschlag eine Melodie abspielen.

«Wenn ich gesund bleibe, arbeite ich über das Pensionsalter hinaus.» Ueli Zürcher

Mit der Lupenbrille vor dem rechten Auge blickt Ueli Zürcher wie ein Chirurg in die Eingeweide eines anderen defekten Uhrwerks – und demontiert die Einzelteile. Aus einer Literflasche aus grünem Glas, die bereits sein Vater zur Aufbewahrung von Lösungsmitteln gebraucht hat, leert mein Lehrmeister etwa einen halben Deziliter in ein Metallschälchen. Nun bin wieder ich an der Reihe. Mit Zeigfinger und Daumen der linken Hand tunke ich verschmutzte Uhrenteile in die Flüssigkeit, mit einem kleinen Pinsel, den ich in der rechten Hand halte, reinige ich die Teile. Geduldig schaut mir mein temporärer Chef zu.

«Eine Uhr, die zweihundert Jah­re oder noch älter ist, könnte viel erzählen», sagt Ueli Zürcher. Etwa, von welcher Familie und in welchem Haus sie die Zeit an­zeigte. Bei den sogenannt mehrbesseren Bauern seien die Sumiswalder Pendulen oft zusammen mit dem Hof vererbt worden. Und weil dies so festgeschrieben worden sei, «wusste man auch, wie alt die Uhr war». Erste Sumiswalder Pendulen wurden gegen Ende des 18. Jahrhunderts hergestellt. Uhrmacher Jakob Zaugg (1760–1814) fertigte das erste Exemplar an, dessen Form sich an den Pendulen aus dem Neuenburger Jura orientierte.

«Nein», sagt Ueli Zürcher, «einsam bin ich nicht in meiner Werkstatt.» Diesen Eindruck könnte man haben, denn ausser den Pendelgeräuschen und den Glockenschlägen zu viertel, halben und ganzen Stunden hört man kaum einen Ton. Nur ab und an kommt Ehefrau Regina aus dem Büro und teilt mit, dass am Nachmittag eine defekte Pendule angeliefert werde. Die meisten Leute kämen direkt zu ihm in die Werkstatt. «So kann ich den Kunden zeigen, woran ich arbeite und welche Uhren ich bereits repariert habe. Das schafft Vertrauen», sagt der gewiefte Ge­schäftsmann. Hauptsächlich aus der Deutschschweiz reisten seine Kunden an, sagt Zürcher – von Bern, Basel und Zürich. Aber auch aus dem Dorf kämen die Leute. Und sei es nur, um die Batterie in der Armbanduhr ersetzen zu lassen. Er habe sogar Kunden aus Burgdorf, «weil es dort keinen Uhrmacher mehr gibt».

Zum Glück gibt es den Wasener Uhrendoktor Ueli Zürcher noch. Spezialisten wie er, die antike Pendeluhren, Neuenburger und Sumiswalder Pendulen, Regulatoren, Schwarzwälder-, Wand-, Gewicht-, Kamin- und Standuhren wieder in Gang bringen, sind dünn gesät. Uhrmacher, die nicht nur von ihrer Arbeit beseelt sind, sondern diese Freude am Beruf auf Laien wie mich übertragen können.

Berner Zeitung, Freitag 12. Oktober 2018, Autor Urs Egli, Bilder Marcel Bieri
Quelle: www.bernerzeitung.ch/wenn-die-stunde-schlaegt-492071338044